Nach der vernichtenden Niederlage ihrer Flotte vor Leyte entwickelte die japanische Führung eine letzte selbstmörderische Kampftaktik. Wie aber konnte man die Piloten zu diesem Opfer bringen?
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Im 13. Jahrhundert errichteten die Mongolen das größte Reich der Geschichte. Ihm sollte nach der Eroberung Chinas auch Japan angehören. Dazu wurde 1274 eine Flotte von 3500 Schiffen zusammengezogen, die mehr als 100.000 Krieger in das von inneren Kriegen zerrüttete Inselreich übersetzen sollte. Buchstäblich in letzter Minute zerstörte ein Taifun die Invasionsflotte. Auch der zweite Invasionsversuch sieben Jahre später endete in einer Sturmkatastrophe.
„Sage Dank für den göttlichen Wind, der die Flotte vernichtet hat“, schrieb damals der Tenno Komei. „Kamikaze“ (Göttlicher Wind) nannte die japanische Führung auch die neue Taktik, die nach der schweren Niederlage auf den Philippinen im Oktober 1944 das Kaiserreich noch einmal vor dem Untergang bewahren sollte. Nicht umsonst trugen die ersten Staffeln dieser Selbstmordflieger mythische Namen wie „Morgensonne“ oder „Bergkirschenblüten“.
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Als Erfinder gilt Vizeadmiral Takajiro Onishi, der kurz vor der US-Landung auf Leyte zum Kommandeur der Marineluftstreitkräfte auf den Philippinen ernannt worden war. Noch während die japanische Flotte auf dem Marsch zur Entscheidungsschlacht war, soll er auf einer Konferenz seinen Offizieren erklärt haben: „Wir müssen Selbstmordeinheiten aus mit Bomben bestückten Zero-Jägern aufstellen, die sich auf die feindlichen Träger stürzen.“
Am 25. Oktober, nachdem die Amerikaner das Gros der Vereinigten Flotte versenkt hatten, stürzten sich die elf Maschinen des neuen Sonderangriffskorps auf die amerikanische Landungsflotte. Zwei Begleitträger wurden vernichtet, vier schwer beschädigt. Das war mehr, als den riesigen Schlachtschiffen des Kaisers gelungen war, als sie am Tag zuvor die nahezu wehrlose Invasionsflotte vor ihre Kanonen bekommen hatte.
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Von allen Episoden des Pazifikkrieges hat der „Göttliche Wind“ die Fantasie der Nachgeborenen am meisten beschäftigt und den Blick – jenseits der Teilnehmer USA, Großbritannien oder Australien – auf diesen Kriegsschauplatz gerichtet. Dass die Soldaten des Tenno zu Tausenden – allein die Zahl der getöteten Kamikaze-Flieger wird auf 3000 geschätzt – ihr Leben freiwillig opferten, um dem Kaiserreich Schmach und Untergang zu ersparen, hat Hollywood in vielen Filmen dargestellt.
Der Unterschied zu deutschen Vergeltungsunternehmen am Ende des Krieges war zu offensichtlich. Während selbst fanatisierte NS-Soldaten in Rammjägern oder Mini-U-Booten ihren wahrscheinlichen Tod zwar riskierten, aber dennoch abzuwenden suchten, nahmen ihn die Japaner von Anfang an in Kauf.
Man hat den „Göttlichen Wind“ oft mit der „Bushido“ (Weg des Kriegers) genannten Kriegerethik der Samurai erklärt, die auch die Selbstmordangriffe in den Dschungelkämpfen auf den Pazifikinseln provoziert haben soll. Nach diesem Moralkodex der frühneuzeitlichen Kriegerkaste Japans gab es für die Soldaten des Tenno nichts Schöneres und Edleres, als den Freitod für Kaiser und Vaterland zu sterben.
Zum Beleg wird gern die Rede Admiral Onishis zitiert, die dieser bei der Einweihung einer Kamikaze-Basis auf Taiwan im Januar 1945 gehalten hat: „Selbst wenn wir geschlagen werden, wird der Opfergeist dieses Kamikaze-Korps unser Heimatland vor dem völligen Zerfall bewahren. Ohne diesen Geist würde das völlige Chaos der Niederlage folgen.“
Dagegen hat der deutsch-jüdische Gelehrte Kurt Singer, der in den 30er-Jahren in Japan lebte und nach Kriegsende seine Beobachtungen resümierte, auf die eklatanten Unterschiede zwischen der Samurai-Ethik und den intellektuellen Leitlinien der Meji-Epoche, der Reformzeit nach der Öffnung des Landes, hingewiesen. Gerade die „Kaiserliche Verordnung für Soldaten des Heeres und der Marine“ verzichtete auf jeden Bezug zu den Samurai, deren Aufstand im Jahr 1879 von den modernen Truppen nur unter großen Mühen niedergeschlagen werden konnte. Allerdings forderten auch die konfuzianisch geschulten Berater des Meji-Kaisers Loyalität, Pflichttreue und Tapferkeit, Werte, denen sich auch die Samurai verpflichtet fühlten.
Die Opferbereitschaft der ersten Kamikaze-Piloten speist sich aber auch aus einer anderen, westlichen Wurzel. Im Jahr 1943 hielt der Philosoph Hajime Tanabe einen Vorlesung mit dem Titel „Tod und Leben“. Darin rief er seine studentischen Zuhörer auf, sich für das Wohl des Vaterlandes zu opfern, um „den Staat in Übereinstimmung mit Gottes Weg“ zu bringen.
In einer Studie hat der deutsche Geisteswissenschaftler Christoph Kraus die intellektuelle Verbundenheit Tanabes mit dem Denken Martin Heideggers herausgearbeitet. Tanabe, einer der einflussreichsten Philosophen Japans, hatte bei Heidegger in den 20er-Jahren studiert, kurz bevor dessen Jahrhundertwerk „Sein und Zeit“ herauskam. Vom darin beschriebenen Verständnis des Todes als prägender Macht des Seins führt eine Linie zu Tanabes Aufruf an seine Schüler, sich Japan und der Verteidigung seiner „Großasiatischen Wohlfahrtssphäre“ zur Verfügung zu stellen. Viele Studenten meldeten sich für die Kamikaze-Einheiten.
Allerdings reichten Philosophie, Pflichterfüllung und Traditionen nicht aus, um den „Göttlichen Wind“ zur entscheidenden Taktik im Kampf gegen die amerikanische Übermacht zu machen. Briefe und Tagebucheintragungen von Kamikaze-Piloten haben gezeigt, dass sich viele von ihnen vor allem dem sozialen Druck beugten, wenn sie sich zu den Selbstmordeinheiten meldeten. Es kann keine Rede davon sein, schreibt der Historiker Wolfgang Schwentker, „dass alle Piloten voller Begeisterung für den Tenno und das Vaterland in ihre Maschinen gestiegen sind; die meisten flogen dem Tod mit trauriger Verzweiflung entgegen“.
Die Führung half nicht selten – zumal gegen Ende des Krieges – nach, indem sie die Flugzeuge nur mit ausreichend Treibstoff für den Hinflug ausstattete. Wenn es kein Zynismus war, steckte dahinter purer Mangel. Das Kaiserreich verfügte längst nicht mehr über ausreichende Reserven an Flugbenzin, modernen Maschinen und ausgebildeten Piloten. Viele konnten von einem Flugzeugträger vielleicht starten. Landen darauf konnten sie nicht mehr, geschweige denn einen Luftkampf gegen die erfahrenen amerikanischen Piloten bestehen. Es blieb ihnen nur, mit ihren zu fliegenden Bomben umgebauten Maschinen sich auf ein lohnendes Ziel zu stürzen.
Zu diesem Zweck wurden auch bemannte Torpedos und Raketenbomben entwickelt, die von einem Kamikaze-Piloten ins Ziel gesteuert wurden. Aber schon bald hatten die Amerikaner die neue Taktik durchschaut. Sie erweiterten ihre Frühwarnsysteme und Jägerschirme und verstärkten die Flugabwehr auf den Schiffen.
Im Kampf um Okinawa von April bis Juli 1945 wurden mehr als 1800 Kamikaze-Einsätze geflogen. Dabei konnten aber nur 17 amerikanische Schiffe versenkt werden, darunter ein Geleitträger und zehn Zerstörer. Insgesamt wurden 36 US-Schiffe Opfer des „Göttlichen Windes“. Zwei Flottenträger wurden so sehr beschädigt, dass sie nicht mehr im Kampf eingesetzt werden konnten. Aber die Wende konnte die selbstmörderische Taktik nicht bringen.
Dennoch verfehlte die scheinbare Todesverachtung der japanischen Flieger ihre Wirkung auf die Amerikaner nicht. Ihre Führung rechnete damit, dass sich bei der geplanten Landung auf den japanischen Hauptinseln Zehntausende Kamikaze-Piloten auf die Invasionsflotte stürzen und an den Stränden eine Million opferbereite Soldaten sich eingegraben hätten. Der erwartete Blutzoll für die eigenen Truppen war einer der Gründe für US-Präsident Harry S. Truman, den Befehl für den Einsatz der Atombomben zu geben.
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