Der Begriff Kamikaze, den wir heute mit halsbrecherischen Selbstmordangriffen aus dem Zweiten Weltkrieg verbinden, stammt ursprünglich bereits aus dem 13. Jahrhundert. Männer, die freiwillig den Tod für ihr Vaterland wählten! Oder wurden sie zu diesem Schritt gezwungen?
Kamikazebedeutet übersetzt „Göttlicher Wind“ und beschreibt eigentlich zwei große Taifune, die in den Jahren 1274 und 1281 mongolische Invasionsheere beim Landen an der japanischen Küste so entscheidend geschwächt haben, dass sie von den japanischen Soldaten zurückgeschlagen werden konnten.
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Erster Kamikaze-Angriff 1944 in der Schlacht von Leyte
DieKamikaze-Angriffe des Zweiten Weltkriegs, bei denen sich zumeist studentische Piloten mit ihren Kampfflugzeugen auf die Schiffe der Alliierten zu stürzen versuchten, wurden das erste Mal bei der Schlacht von Leyte im Jahr 1944 angewendet.
Ihr Ziel war es, einen möglichst großen Schaden anzurichten – nicht nur durch die Explosion des Aufpralls, sondern vor allem durch das brennende Kerosin, dass sich auf und im getroffenen Schiff verteilen sollte. Ihren traurigen Höhepunkt fanden sie bei der Schlacht um die japanische Insel Okinawa, bei der unzählige Japaner sich trotz schwindender Effektivität der Kamikaze-Angriffe immer und immer wieder in den Tod stürzten.
Die Angriffe kann man deshalb eher als eine „Verteidigungstaktik“ des japanischen Heeres bezeichnen, dass die Alliierten durch die Bereitschaft, ihr Leben für das Vaterland zu opfern, ängstigen und einschüchtern sollte.
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Eine falsche Übersetzung?
Wenn wir heute vonKamikaze sprechen, meinen wir eigentlich das japanische Wortshimpû – es handelt sich hierbei um eine fehlerhafte Transkribierung der Kanji des Wortes 神風, welche man auf beide Arten lesen kann.
Lustigerweise hat sich die falsche Lesung, die von den Japanern genutzt wurde, letzten Endes durchgesetzt – sogar in Japan selbst spricht man heutzutage vonKamikaze und nicht mehr vonshimpû.
Kamikaze und seine Wurzeln
Wie bereits zuvor gesagt, geht der NameKamikaze auf zwei berühmte Taifune zurück, die Japan im Mittelalter vor einer chinesischen Invasion bewahrt haben. Die Angriffe an sich gehen hingegen auf die Samurai-Mentalität des japanischen Mittelalters zurück, allem voran auf den bushidô, den Weg des Kriegers.
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Der Samurai wurde dazu erzogen, sich zum Rächer von Ehre und Gesetz zu machen – zunächst gegen sich selbst. […] Denn der Samurai setzte seine Ehre nicht nur darauf, zu dienen und seine Pflichten zu erfüllen, sondern auch, sich zu kontrollieren, zu beherrschen, sich für alle seine Gesten zu verantworten. Das Ideal der Kontrolle ergänzte das der Ergebenheit. Eine Nachlässigkeit wurde als erniedrigend erlebt, als eine Schande, die es auszumerzen galt – zuweilen tötete man sich, um eine Leichtsinnigkeit zu sühnen […]. (PINGUET, Maurice: Der Freitod in Japan. Berlin, 1991, S. 153.)
Die Selbstkontrolle sowie die Kontrolle des eigenen Geistes war von sehr großer Wichtigkeit, vor allem für denseppuku, den man bei uns auch unter dem Wortharakiri kennt – dem Aufschneiden des Bauches.
Der selbst gewählte Tod durchseppuku war eine geeignete Maßnahme, diese Kontrolle zu demonstrieren und war war außerdem ein geeignetes Mittel, um in Ehre aus dem Leben zu scheiden – „[…], man sollte sich den Bauch aufschlitzen und die eigenen Eingeweide herausreißen – alles, ohne eine Regung zu zeigen.“ (PINGUET, Maurice: Der Freitod in Japan. Berlin, 1991, S. 104.) Ein natürlicher Tod galt für einen Samurai deshalb als wenig wünschenswertes Ende.
Neben Selbstkontrolle und Ehre war außerdem die Loyalität für einen Samurai von zentraler Wichtigkeit. Dies resultierte aus dem Konfuzianismus, der in jener Zeit stark verbreitet war und in dessen Zentrum Loyalität gegenüber Ranghöheren stand.
Dietokkôtai
Im Ultranationalismus Japans im Zweiten Weltkrieg werden diese drei Tugenden schließlich erneut vereint, obwohl das Mittelalter bereits lange vorbei war. Selbstkontrolle, Ehre und Loyalität gegenüber Vorgesetzten spielen eine zentrale Rolle bei denKamikaze-Staffeln, die man in Japantokkôtai nennt – eine Abkürzung des Wortestokubetsu kôgekitai, was in etwa „Spezialangriffseinheit“ bedeutet.
Bei den Piloten dieser Selbstmord-Kommandos handelte es sich meistens um Studenten, die direkt vom Campus angeheuert wurden. Wenn auch nur einer der Anwesenden sich freiwillig für dietokkôtai meldete, fühlten sich alle anderen ebenso dazu genötigt – alles Andere wäre eine Schande für die Familie der Studenten gewesen.
Allein anhand von solchen Situationen kann man den Wahnsinn dieser Zeit gut erkennen – der Patriotismus, die Liebe zum Vaterland, war für die Menschen in den Zeiten des Krieges zur wichtigsten aller Tugenden geworden.
Das „wir“ für die Japaner dieser Zeit deshalb wichtiger als das „ich“ und niemand wollte für seine Familie eine Schande sein, indem er sich diesem totalen Krieg verweigerte.
Kamikaze – ein freiwilliger Tod?
Es ist schwer, diese Frage richtig zu beantworten. Auch Historiker zerbrechen sich noch bis heute den Kopf darüber, ob die jungen Männer der tokkôtai sich freiwillig in den Tod gestürzt haben oder ob sie dazu gezwungen worden sind.
Fakt ist, dass sich die Studenten freiwillig dazu entschieden haben, ein Teil der Fliegerstaffel zu werden. Diese Entscheidung mag auf den ersten Blick komplett frei wirken, ist aber bei näherer Betrachtung doch etwas schwieriger, immerhin spielten die weiter oben genannten Ideale der Samurai-Zeit eine große Rolle bei der Entscheidung, sich diesem Himmelfahrtskommando anzuschließen.
Die Piloten wollten kein negatives Bild abgeben, weder vor ihrer Familie, noch vor ihren Freunden und Bekannten. Hierbei handelt es sich, wenn man so will um eine Denkweise, die ihnen von klein auf in den Kopf gehämmert wurde.
Prinzipiell kann man also so weit gehen, dass man die Erziehung der japanischen Bevölkerung in jener Zeit als eine Art kollektive Gehirnwäsche bezeichnen kann. Die Menschen wurden gelehrt, so zu denken, wie die Militärregierung es von ihnen wollte.
Die Kamikaze-Piloten dertokkôtai haben sich demnach zwar selbst für ihren Einsatz mit Todesfolge entschieden. Gezwungen wurden sie dazu jedoch durch den gesellschaftlichen Druck ihrer Zeit, in der sie von klein auf dazu gedrillt wurden, den Staat über ihr eigenes Leben zu stellen.