Während der Schlacht in der Philippinensee 1944 setzte Japans Marine erstmals Spezialangriffstruppen ein. Ihre Piloten stürzten sich mit ihren Maschinen auf US-Schiffe. Die Selbstmord-Taktik hatte katastrophale Folgen.
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In der vierten Oktoberwoche 1944 war von der Vereinigten Flotte des Kaiserreichs Japan nur noch ein Schatten ihrer einstigen Größe geblieben. In der dreitägigen Schlacht vor der Philippineninsel Leyte hatte die US Navy vier Flugzeugträger, drei Schlachtschiffe und zehn Kreuzer des Tenno versenkt. Von 500 Flugzeugen waren nur noch 100 einsatzbereit. Doch Vizeadmiral Onishi Takijiro wollte sich damit nicht abfinden. „Wir müssen Selbstmordeinheiten aus mit Bomben bestückten Zero-Jägern aufstellen, die sich auf die feindlichen Träger stürzen“, erklärte der Oberbefehlshaber der kaiserlichen Marineluftstreitkräfte auf den Philippinen seinen Offizieren. Diese gehorchten klaglos.
Es war die Geburt jener verzweifelten Taktik, die gemeinhin Kamikaze (göttlicher Wind) genannt wird. So waren die Stürme benannt worden, die im 13. Jahrhundert zweimal die überlegenen Invasionsflotten der Mongolen zerstreut und damit das Kaiserreich gerettet hatten. Nun sollten Freiwillige sich mit ihren zu Bomben umgebauten Flugzeugen auf die amerikanischen Schiffe stürzen. „Selbst wenn wir geschlagen werden, wird der Opfergeist dieser Spezialangriffstruppe unser Heimatland vor dem völligen Zerfall bewahren“, begründete Onishi die selbstmörderische Taktik, die auch einem gesellschaftspolitischen Motiv folgte. „Ohne diesen Geist würde das völlige Chaos der Niederlage folgen.“
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Bis dahin war es wiederholt vorgekommen, dass japanische Piloten ihre beschädigten Maschinen auf feindliche Schiffe gesteuert hatten. Nun aber wurden reguläre Einheiten aufgestellt, die diese Aufgabe übernehmen sollten. Ihren ersten Angriff flogen die Piloten des Marinefliegergeschwaders 201 am 25. Oktober 1944. Seine elf Flugzeuge stürzten sich auf die amerikanische Landungsflotte vor Leyte. Ein Begleitträger wurde versenkt, weitere Schiffe schwer beschädigt. Das war mehr, als den riesigen Schlachtschiffen des Kaisers gelungen war, die für kurze Zeit freies Schussfeld auf die Landungsschiffe bekommen hatten.
Nicht umsonst war Kamikaze eine Erfindung der japanischen Marine. Wie in den USA war die Luftwaffe im Kaiserreich keine eigenständige Waffengattung, sondern Armee und Flotte zugeordnet. Beim Überfall auf die US-Pazifikflotte in Pearl Harbor im Dezember 1941 galten die japanischen Marineflieger als die besten der Welt. Aber obwohl die Admiralität um die wachsende Bedeutung der Flugzeugträger im Seekrieg wusste, hatte sie die Ausbildung neuer Piloten vernachlässigt. So konnten die Lücken, die die schwere Niederlage bei Midway im Juni 1942 gerissen hatte, wo die Amerikaner vier große japanische Träger versenkten, nie mehr geschlossen werden.
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Nach der Schlacht von Leyte gab es auch kaum noch Träger, von denen Flugzeuge hätten aufsteigen können. Den Piloten wurde beigebracht, wie sie eine Maschine in die Luft bringen und einigermaßen auf Kurs halten konnten. Manöver, mit denen sie den erfahrenen US-Piloten hätten Paroli bieten können, wurden nicht trainiert. Eine Rückkehr zu ihren Stützpunkten war ausgeschlossen. Um sicherzugehen (oder aus Mangel), erhielten die Flieger nur so viel Treibstoff, um bis zu den US-Schiffen zu gelangen, die zur Invasion der Inseln Iwo Jima und Okinawa aufmarschierten. Der Befehl lautete: ein Flugzeug, ein Schiff.
Man hat den „Göttlichen Wind“ oft mit der Bushido (Weg des Kriegers) genannten Kriegerethik der Samurai erklärt, die auch die selbstmörderischen Massenangriffe in den Dschungelkämpfen auf den Pazifikinseln provoziert haben soll. Nach dem Moralkodex der frühneuzeitlichen Kriegerkaste Japans gab es für Soldaten des Tenno nichts Schöneres und Edleres, als den Freitod für Kaiser und Vaterland zu sterben.
Doch das war nur die eine Wurzel des Kamikaze. Dass sich viele Studenten freiwillig zu den Spezialangriffstruppen meldeten, erklärt der Philosophie-Historiker Christoph Kraus mit Einflüssen Martin Heideggers. Zu dessen Bewunderern gehörte der japanische Philosoph Tanabe Hajime, der seinen Schülern den Tod als prägende Macht des Seins erklärte. In diesem Sinn rief Tanabe die Studenten auf, ihren Teil zur Verteidigung des Kaiserreichs beizutragen.
Allerdings zeigen Tagebucheinträge und Briefe, dass nicht alle Kamikaze-Piloten mit großer Begeisterung in den Tod gingen. Viele brachte gesellschaftlicher Druck zu den Selbstmordkommandos, manche folgten gegen Ende des Krieges auch fanatischen Durchhaltebefehlen. Andere widmeten ihr Leben stolz dem Kaiser. „Euer Vater ist ein Gott geworden“, schrieb ein Pilot an seine Söhne. „Vater ist ein glücklicher Mensch. Er reitet auf einer Bombe, die unsere Feinde wegfegen wird.“ Sätze wie diese werden im modernen Japan als Beispiele für Opfermut und Vaterlandsliebe zitiert.
Bis Kriegsende traten mehr als 4000 Männer, von denen manche fast noch Kinder waren, den Spezialangriffstruppen bei. Mehr als 3000, genaue Zahlen gibt es nicht, verloren ihr Leben bei Angriffen auf die amerikanischen Schiffe. Doch die überschaubare Zahl von 36 Versenkungen, die die Kamikaze-Piloten erzielten, zeigt doch, dass die Taktik gegen die überlegene amerikanische Abwehr ohne Chance war.
Dennoch verfehlte die scheinbare Todesverachtung der japanischen Flieger ihre Wirkung auf die Amerikaner nicht. Ihre Führung rechnete damit, dass sich bei der geplanten Landung auf den japanischen Hauptinseln Zehntausende Kamikaze-Piloten auf die Invasionsflotte stürzen und sich an den Stränden eine Million opferbereite Soldaten eingegraben hätten. Nicht zuletzt der erwartete Blutzoll für die eigenen Truppen bewog US-Präsident Harry S. Truman im Sommer 1945, den Befehl für den Einsatz der Atombomben zu geben.
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