Der letzte Akt der Verzweiflung des Kaiserreich Japans im Zweiten Weltkrieg
Zum Dasein eines Soldaten gehört die Bereitschaft, für sein Land und dessen Sache zu töten und zu sterben, wobei die meisten Soldaten doch gerade Letzteres zu vermeiden suchen. Eine im Westen als Kamikaze-Flieger berüchtigte japanische Spezialeinheit während des Zweiten Weltkriegs ging nicht nur wissentlich und willentlich in den Tod, sondern verband Töten und Sterben unmittelbar miteinander. Diese Piloten der Kaiserlich Japanischen Luftwaffe schossen nicht nur von ihren Kampfflugzeugen aus, sondern machten ihre Flugzeuge selbst zu Projektilen, soll heißen: Sie flogen mit ihren Jagdflugzeugen in die feindlichen Kriegsschiffe. Sie töteten sich selbst und rissen dabei so viele Feinde wie möglich mit sich in den Tod. Diese für die meisten Menschen wohl schwer nachvollziehbare Taktik kann man allenfalls vor dem Hintergrund der japanischen Kultur und Denkweise und dem damaligen technischen Stand des Kriegsgeräts verstehen.
Die besagte Einheit hieß eigentlich 神風特攻隊 (Shimpū Tokkōtai), was japanisch ist und in etwa „Spezial-Angriffstruppe Göttlicher Wind“ bedeuten soll, wobei 特攻隊 (Tokkōtai) ein Kofferwort aus den Wörtern der Bezeichnung 特別攻撃隊 („Tokubetsu Kōgekitai“) ist, was halt „Spezial-Angriffstruppe“ bedeutet. 神風 (Shimpū) heißt folglich „Göttlicher Wind“. Wie wurde daraus aber nun die Bezeichnung „Kamikaze“? Die japanischen Schriftzeichen, die Kanji können verschiedentlich gelesen werden: in der On-Lesung und der Kun-Lesung. Zum anschaulicheren Verständnis: Im japanischen Filmklassiker „Chihiros Reise ins Zauberland“ notiert die Hexe Yubaba Chihiros Namen: 荻野 千尋 (Ogino Chihiro). Um ihr einen neuen Namen zu geben (sie soll ihren richtigen Namen vergessen, was Yubaba Macht über sie verleiht), entfernt sie dann den Familiennamen 荻野 (Ogino) und einen Teil des Vornamens 尋 (hiro). Es verbleibt das Zeichen 千 und Yubaba sagt zu Chihiro, ihr Name sei nun Sen. 千 kann nämlich sowohl als chi als auch als sen gelesen werden. 神風 wiederum spricht man nach der On-Lesung „Shimpū“ aus, nach der Kun-Lesung hingegen „Kamikaze“. Als die US-Amerikaner mit 神風特攻隊 konfrontiert wurden, nutzten sie zur Transkription fälschlicherweise die Kun-Lesung, wodurch sich in der westlichen Welt der Begriff „Kamikaze“ etablierte, den wir daher auch im weiteren Text nutzen werden.
Die Kamikazetaktik soll laut japanischen Berichten zurückgehen auf Kaigun-dai-i (Rang entspricht dem des Leutnants) Fusata Iida (1913 – 1941). Jener soll beim Angriff des Kaiserreichs Japan auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 erklärt haben, dass er im Falle eines feindlichen Treffers im Sturzflug ein feindliches Schiff rammen werde. So würde er möglichst viele feindliche Soldaten oder gar das ganze Schiff mit sich in den Tod reißen. Er war also nicht als Selbstmordpilot in die Schlacht gezogen, sondern hätte im Tod noch versucht, möglichst viel Schaden anzurichten. Iidas Idee wurde auch vielfach künstlerisch rezipiert und das nicht nur in Historienfilmen, so etwa wenn in „Star Wars: Episode VI – Die Rückkehr der Jedi-Ritter“ in der Schlacht von Endor ein A-Wing der Rebellen getroffen wird und Pilot Arvel Crynyd den Jäger in das Kommandoschiff Executor lenkt und dieses so zerstört. Es wäre in der Theorie also eine durchaus effektive Taktik, besonders wenn sie von Jagdmaschinen nach einem fatalen Treffer ausgeführt würde. Allerdings ging es beim Shimpū Tokkōtai nicht darum, dass ohnehin dem Tode geweihte Piloten im Sterben noch möglichst viel Schaden anrichten wollten, sondern darum, mit dem Ziel, sich in den Tod zu stürzen, loszufliegen.
Iidas Flugzeug, eine Mitsubishi A6M wurde während der Schlacht um Pearl Harbor dann tatsächlich von der amerikanischen Flugabwehr getroffen, woraufhin er zunächst auf die USS Neosho zusteuerte. Er drehte aber im letzten Moment ab und beendete sein Leben, indem er in eine Reihe Curtiss P-40 Warhawks stürzte, die auf dem Marineflugplatz Kaneohe standen. Er hielt sein Versprechen also nicht so wirklich, starb aber trotzdem. Dennoch machte seine Idee Schule. Grund für die Entscheidung, einen solchen Selbstmordangriff zu fliegen, war der 武士道 (Bushidō), was „Weg der Krieges“ bedeutet und ein Ehrenkodex des japanischen Militärs war. Für japanische Soldaten war die Gefangennahme nämlich eine Schande, eine Verletzung ihrer Ehre. Und ja, der Rapper Anis Mohamed Youssef Ferchichi (*1978) leitet seinen Künstlernamen Bushido von dem japanischen Kriegerkodex ab.
Mit dem Angriff auf Pearl Harbor begann der Pazifikkrieg zwischen den Alliierten, hauptsächlich vertreten durch die USA und Australien, und dem Kaiserreich Japan, das schon im Vorfeld Teile Chinas unter seine Kontrolle gebracht hatte – China befand sich im Verhältnis zu Japan also in einer ähnlichen Situation wie Frankreich zu Deutschland: eigentlich eine gegnerische Partei, aber durch Besetzung ein angegliedertes Gebiet.
Beide Seiten kämpften im Pazifikkrieg primär mit einer Kombination von Luftwaffe und Marine, Flugzeugträger als mobile Landebahnen für die Kampfflieger kamen auf beiden Seiten zum Einsatz. Doch waren die USA klar überlegen und 1944 entschied Japan dann – quasi als letzten Akt der Verzweiflung – die Taktik Iidas gezielt einzusetzen. Wobei die allermeisten Piloten, die auf diese Art von Selbstmordmissionen gingen, Freiwillige waren. Die Japaner selbst propagierten gerne, die Idee, Kamikazeangriffe gezielt einzusetzen, ginge auf Kaigun-shōshō (Konteradmiral) Masafumi Arima (1895 -1944) zurück. In Wahrheit kam die Idee aber von Kaigun-chūjō (Vizeadmiral) Ōnishi Takijirō (1891 – 1945), der am Tag der Kapitulation Japans die Familien der Piloten um Vergebung bat und danach selbst Suizid beging.
Am 25. Oktober 1944 flog ein Verbund Freiwilliger des Marineflieger-Geschwaders 201 den ersten Kamikazeangriff gegen den Geleitträgerverband 77.4.3 („Taffy 3“) vor Leyte und versenkte dabei CVE-63 St. Lo und beschädigte vier weitere Geleitträger. Von den Flugzeugen, die in den letzten Kriegsmonaten losflogen, um in amerikanische Kriegsschiffe zu fliegen, erreichten nur wenige überhaupt ihr Ziel. So opferten die Kaiserlichen Marineluftstreitkräfte etwa 3000 Soldaten, um 34 Schiffe der US-Marine zu versenken und 368 zu beschädigen. Nur 14 % der Piloten, die sich freiwillig gemeldet hatten, erlebten das Kriegsende – die meisten, weil sich keine Gelegenheit mehr für sie bot, da Japan kapituliert hatte, ehe sie zum Einsatz kamen. Wirklich wirkungsvoll war aber der psychologische Aspekt der Angriffe, denn Piloten, die bereit waren, mit ihren Flugzeugen in feindliche Schiffe zu fliegen, waren völlig unberechenbar und das verstörte viele Soldaten der US-Streitkräfte.
Zum Einsatz kamen Mitsubishi A6M, Nakajima Ki-43 und Yokosuka D4Y, ferner die einzig für Kamikazeangriffe konstruierte Yokosuka MXY-7 und sogenannte bemannte Torpedos. Wer sich nun fragt, warum man keine Flugkörper von den Jagdfliegern aus auf die Schiffe abfeuerte, was ja einen ähnlichen Effekt gehabt hätte, sollte bedenken, dass der erste militärische Marschflugkörper, Fieseler Fi 103, auch erst 1944 von den Ingenieuren Robert Lusser (1899-1969) und Fritz Gosslau (1898-1965) entwickelt worden war und daher nur das Deutsche Reich zu diesem Zeitpunkt über diese Technologie verfügte. Besser bekannt ist die Waffe unter dem Namen, den die NS-Propaganda ihr gab: Vergeltungswaffe 1 oder kurz V1.
Literatur
Axell, Albert; Hideaki, Kase (2002). Kamikaze: Japan’s Suicide Gods. New York: Longman.
Brown, David (1990). Fighting Elites: Kamikaze. New York: Gallery Books.
Huggins, Mark (May–June 1999). „Setting Sun: Japanese Air Defence of the Philippines 1944–1945“. Air Enthusiast (81): 28–35.
King, Dan (2012). The Last Zero Fighter Firsthand Accounts from WWII Japanese Naval Pilots. California: Pacific Press.
Hoyt, Edwin P. (1993). The Last Kamikaze. Praeger.
Inoguchi, Rikihei; Nakajima, Tadashi; Pineau, Roger (1959). The Divine Wind. London: Hutchinson & Co. (Publishers) Ltd.
Toland, John (1970). The Rising Sun: The Decline and Fall of the Japanese Empire, 1936–1945. New York: Random House.
Zaloga, Steven (2011). Kamikaze: Japanese Special Attack Weapons 1944-45. Osprey.
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